Essgeschichten mit Mutter, Tochter und Großmutter
Emilia 05.09.2005
Gestern war ich mit meiner jüngeren Schwester und meinem älteren Bruder wandern. Das haben wir als Kinder mit unseren Eltern oft und gerne gemacht. Und gestern war der perfekte Tag zum Wandern. Ich liebe es, im Spätsommer mit meinen Geschwistern wandern zu gehen. Das machen wir nun schon seit fünf Jahren und immer Anfang September, in Erinnerung an unsere verstorbenen Eltern.
Als ich wieder zu Hause in meiner Stadtwohnung war, hing ich noch etwas meinen Gedanken nach: Die schönen Wanderwege und die tollen, aufrichtigen Gespräche, die beim Wandern oft so ganz nebenbei entstehen. Es ist herrlich Geschwister zu haben, mit denen man sich gut versteht. Das war zwar mit meinen Geschwistern nicht immer so, doch seit einigen Jahren verstehen wir uns durchweg gut miteinander. Nur meine ältere Schwester, die Älteste von uns vier Geschwistern ist so ein Sonderfall und schwierig im Umgang.
Meine Mutter und sie hatten ein eher problematisches Verhältnis miteinander. Das ist möglicherweise der Tatsache geschuldet, dass meine Schwester Anne-Marie aus erster Ehe ist. Als meine Mutter das zweite Mal geheiratet hat, war meine Schwester erst zwei Jahre alt und kam mit ihrem Stiefvater, meinem Vater nicht gut zurecht. Vermutlich aufgrund von Eifersucht. Dann kam auch noch mein Bruder relativ bald auf die Welt. Da gab es plötzlich noch jemand, mit dem sie ihre Mutter teilen musste. Das tut mir immer noch sehr leid für Anne-Marie. Sie hat sich leider nie wirklich um eine Versöhnung bemüht, nicht daran gedacht, eine Therapie zu machen oder so.
Mit 12 Jahren hat sie eine Essstörung entwickelt und war auf 40 kg, bei 165 cm, abgemagert. Meine Eltern waren vollkommen überfordert damit. Erst als Anne-Marie mit 16 Jahren zu ihrem leiblichen Vater gezogen ist, wurde es ruhiger bei uns. Meine Eltern haben viel versucht und sie unterstützt, wo es ging, doch war es für sie nie genug, nie gut genug. Schade, denn sie ist ein toller, liebenswerter Mensch. Das Problem scheint mir jedoch, dass sie sich selbst nicht wertschätzen und lieben kann, obwohl ihr auch von uns Halbgeschwistern viel Liebe entgegengebracht wurde. Naja, heute ist sie fast fünfzig, hat zwei Kinder, ist geschieden und seit fünf Jahren alleinerziehend. Ein hartes Los, vor allem, wenn man sich von kaum jemandem helfen lassen will. Nicht von unserer Mutter als sie noch lebte und auch nicht von uns Geschwistern. Sie glaubt, alles alleine machen zu müssen.
Glücklicherweise sind ihre beiden Töchter ihr sehr liebevoll zugewandt, sie verstehen sich gut und helfen ihr wo es geht, zum Beispiel beim Kochen. Lisa, ihre jüngere Tochter, hat schon mit 10 Jahren das Kochen entdeckt und sich über „learning by doing“ viel selbst beigebracht. Mit 12 Jahren hat sie an den Wochenenden schon die ganze Familie bekocht und heute, mit 15 Jahren, begeistert sie alle bei jedem Familienfest mit ihren Kochkünsten. Sie möchte unbedingt Köchin werden. Das Kochen hat sie in der Trennungsphase ihrer Eltern gerettet, glaubt sie ganz fest.
Immer wenn sich ihre Eltern gestritten haben, ist sie in die Küche gegangen und hat etwas Leckeres gekocht. Am Anfang waren es meist Rühreier oder Spiegeleier in den unterschiedlichsten Variationen. Später dann kleine, einfache Gerichte und auch mal ein richtiges Menü. Ihre Oma, meine Mutter, hätte sie mit ihrer Leidenschaft fürs Kochen und Essen dazu inspiriert. Und sie hätte zudem schon als kleines Kind gespürt, wie wichtig Kochen und Essen für ihre Oma war und wie gut es ihr getan hat. Das kannte sie von ihrer Mutter nicht. Die war eine schwierige Esserin.
„Mit Oma hat das Essen immer Freude gemacht, mit meiner Mutter nur selten“, hat sie mir einmal anvertraut. Das war wohl auch der Grund dafür, dass sie ein sehr gutes, inniges Verhältnis zu ihrer Oma hatte. Und das begleitet sie noch heute beim Kochen, meint sie. Das ist schön zu wissen und irgendwie auch tröstlich. Ich selbst habe keine Kinder und dass meine Nichte solche nährenden Qualitäten aus unserer Familie mitbekommen hat, verbindet auch mich auf eine gewisse Art tiefer mit meinen Wurzeln. Es gibt mir ein Bewusstsein dafür, dass sie fürsorglich und nährend waren. Das tut gut!
Nicole
Es war an einem sehr schönen Wintertag im Januar und ich wollte gerade für einen Spaziergang aus dem Haus gehen, da klingelte das Telefon. Meine Mutter war dran, die sich nach langer Kontaktpause bei mir meldete. Was für eine schöne Überraschung dachte ich erst, doch dann machte sie mir schon wieder nur Vorwürfe, sodass ich nach fünf Minuten den Hörer aufknallen ließ. „So eine blöde Kuh“, rief ich laut in den Hausflur hinein. Gut, dass meine beiden Söhne nicht zu Hause, sondern auf einer Jugendfreizeit mit dem Fußballverein unterwegs waren.
Mein Mann lebte schon lange nicht mehr bei uns. Er ist vor fünf Jahren mit einer anderen Frau durchgebrannt. Seitdem machte mir meine Mutter Vorwürfe, ich hätte mich nicht genug um Jörg, meinen Ex-Mann gekümmert. Da sie selbst schon früh von meinem Vater geschieden war dachte sie, es hätte an ihr gelegen, dass auch meine Ehe nicht auf Dauer gehalten hatte. Es waren ihre eigenen Schuldgefühle, die sie mir seit der Trennung von Jörg einreden wollte. Typisch meine Mutter: Projektionen, wo man nur hinschaute. Da ich Einzelkind bin, habe ich diesen ganzen Mist alleine abbekommen. Und nachdem mein Vater aus dem Haus war, konnte ich mich kaum noch gegen all die Übertragungen meiner Mutter auf mich erwehren. Ich war ja erst sechs Jahre alt, als mein Vater meine Mutter verlassen hatte und dass ich die neue Frau meines Vaters nett fand, war auch nicht meine Schuld. „Was für ein Mist“, schrie ich voller Wut, „jetzt hat mir meine Mutter meinen schönen Spaziergang verdorben.“
Moment mal! Hatte ich nicht erst vor Kurzem einen Workshop zum Thema „Wie werde ich auch noch jenseits der 40 meine Mutter los“ belegt? Der war doch grandios und ich habe jede Menge Werkzeug an die Hand bekommen, wie ich mich von meiner Mutter und ihren Übertragungen auf mich abgrenzen kann. Nein, ich werde den Spaziergang genießen und mir auf halber Strecke in meinem Lieblingscafé einen doppelten Espresso gönnen und dazu ein Stück gedeckten Birnenkuchen mit Rosinen bestellen. Ja, Rosinen! Ich liebe Rosinen! Meine Mutter mag keine Rosinen, ekelt sich irgendwie davor. Das war immer ein Problem in meiner Kindheit und letztlich auch noch später im Erwachsenenalter, wenn meine Mutter bei uns zu Besuch war und ich gedeckten Birnen- oder Apfelkuchen mit Rosinen gebacken hatte. Dabei hatte ich extra eine ganze Hälfte des Kuchens ohne Rosinen zubereitet. Doch meiner Mutter war schon der Anblick von Rosinen zuwider.
„Klingt nach einer traumatischen Erfahrung“, meinte mal eine befreundete Therapeutin zu mir. Meine Mutter wollte nie etwas dazu sagen, auch nicht nach wiederholtem Nachfragen meinerseits. Ich müsse mich damit abfinden, meinte sie und dass es in ihrer Anwesenheit einfach keine Rosinen gäbe, Punkt. Heute weiß ich, dass ich als Kind vor allem aus Widerstand gegen meine Mutter viele Rosinen, meist heimlich gegessen habe. Es war mir eine Genugtuung die kleinen süßen Dinger zu verspeisen. Doch irgendwann etwa in der Pubertät, hatte das seinen Reiz verloren und die Rosinen sind etwas in Vergessenheit geraten. Erst als mein ältester Sohn mit etwa sechs Jahren kurzzeitig eine Aversion gegen Rosinen entwickelt hatte, setzte ich mich mit dem „Rosinen-Thema“ wieder intensiv auseinander.
„Gibt es so etwas wie eine genetisch bedingte Aversion gegen bestimmte Lebensmittel?“, fragte ich mich. Nach längeren Überlegungen und auch Recherchen dazu im Internet war die Antwort darauf ein klares: „Nein!“ Nein, das gab es nicht. Dennoch musste ich mich mit dem vermeintlichen Widerstand meines älteren Sohnes Jonas gegen Rosinen auseinandersetzen. Mein jüngerer Sohn Peter liebte Rosinen und wollte sie jeden Morgen in seinem Porridge haben. Und das führte dann zu Konflikten mit Jonas, bis ich auf die Idee kam, die beiden während des Frühstücks an unterschiedliche Tische zu setzen: Peter, den Jüngeren von beiden an den kleinen Kindertisch, der normalerweise im Kinderzimmer stand. An dem Tisch fühlte er sich wohl und keinesfalls degradiert. Jonas saß am Küchentisch, was ihm ein Gefühl von Überlegenheit gab, da er am Erwachsenentisch sitzen durfte. Auf diese Weise musste der ganz normale Konkurrenzkampf zwischen den beiden Jungs nicht mehr über die Rosinen ausgetragen werden und nach relativ kurzer Zeit, nach zwei bis drei Wochen war der Spuk vorbei und auch Jonas aß wieder gerne Rosinen in seinem Frühstücksporridge.
Ja, und was die Sache mit meiner Mutter anging, habe ich die Hypothese, dass sie mir in Wahrheit das Essen von Rosinen als Kind nur deshalb zu Hause verbieten wollte, da mein Vater auch gerne Rosinen aß. Wir beide teilten also diese Leidenschaft miteinander. Es war ihr Widerstand und Konflikt mit meinem Vater, der sich in diesem kleinen, aber weitreichenden Verbot ausdrückte. Meiner Mutter habe ich meine Erkenntnisse dazu übrigens nie kommuniziert. Es hätte an unserem schwierigen Verhältnis nichts geändert. Doch für mich war die Erkenntnis enorm wichtig, nicht an der Trennung meiner Eltern Schuld gewesen zu sein und auch nicht an der von meinem Mann.
Judith
Es war an einem schönen Herbsttag im Oktober und meine Mutter und ich waren gerade aus dem Krankenhaus zurück, Mein Vater lag dort wegen einer Blinddarm-OP. Als wir uns gerade einen Kaffee in einem schönen, alt-eingesessenen Café in der Innenstadt kredenzen lassen wollten, kam ein jüngerer Mann auf uns zu, grüßte freundlich und ging dann in das besagte Café hinein. „Ist das nicht Rudi der Junge mit den weißblonden Haaren, den du in der Grundschulzeit so mochtest?“ „Welcher Rudi?“, fragte ich leicht genervt. Meine Mutter machte sich nämlich seit geraumer Zeit Gedanken, warum ich schon so lange keine Beziehung mehr hatte und gab daher immer mal wieder Hinweise auf nette junge Männer. „Ach, ja“, sagte ich, Interesse vortäuschend. „Du meinst den, dessen Eltern sich schon früh haben scheiden lassen? Ich glaube, er war das erste Scheidungskind, das ich kannte. Später ist er dann zu seinen Großeltern gezogen, die sich wohl besser um ihn gekümmert haben als seine Eltern. Wie es dem wohl in all den Jahren ergangen sein mag?“
Jetzt schwieg meine Mutter, denn sie konnte sich an diesen Sachverhalt nicht mehr erinnern. Wie auch! Die Geschichte war von mir rein erfunden. Jetzt hatte ich erst einmal wieder Ruhe vor irgendwelchen Verkupplungsmanövern. Als wir in das Café hineingingen, sah ich den vermeintlichen Rudi in der Ecke an einem kleinen Zweiertisch sitzen. Er schien in Gedanken vertieft zu sein. Plötzlich sehe ich eine große Narbe auf der linken Seite seiner Stirn. Sah übel aus und es musste wohl noch nicht ganz so lange her sein, als das passiert war. Etwas geschockt von dem Anblick schaute ich weg, in eine andere Richtung und entdeckte dabei einen schönen Tisch am Fenster, der noch frei war. Ich lenkte die Schritte meiner Mutter in Richtung dieses Tisches und setzte mich so, dass ich aus dem Fenster auf die Terrasse des Cafés blicken konnte.
„Was für ein wunderschöner Garten“, dachte ich gerade noch, da unterbrach mich meine Mutter und fragte: „Was möchtest du denn trinken, Schätzchen?“ „Einen schwarzen Tee, wie immer, sagte ich kurz angebunden. Dann versank ich wieder in meinen Gedanken. „Kannte ich diesen Rudi wirklich aus der Grundschulzeit und wenn ja, woran hatte ihn meine Mutter erkannt? Da liegen doch jetzt ganze zwanzig Jahre dazwischen.“ Dann fiel es mir ein. Auf dem Tisch, an dem Rudi saß, hatte ich vorhin einen Teller mit Apfelkuchen und einer mega-großen Portion Schlagsahne gesehen. Ja, das war es. Rudi hatte schon als Kind große Portionen Schlagsahne geliebt und zu seinen Geburtstagen gab es immer Apfelkuchen und eine große, sehr große Schale Schlagsahne dazu. Mensch, der Arme! Was war denn mit seiner Stirn passiert? Gerade in diesem Moment schaute er verblüfft herüber, so, als hätte er meine Gedanken gelesen. Wir lächelten uns unwillkürlich an, dann nickte er grüßend. „Hatte er mich erkannt?“, fragte ich mich.
Dann meinte meine Mutter, wieder meinen Gedankenstrom unterbrechend: „Kind, du hast gar nicht mitbekommen, dass dein Tee schon vor dir steht. Der wird doch kalt, wenn du ihn nicht bald trinkst.“ Dann fiel ihr auf, dass ich zu dem Tisch von Rudi schaute. Sie drehte sich um, in Richtung des Tisches und meinte: „Hab ich es doch gewusst, es ist Rudi.“ Dann passierte etwas Merkwürdiges. Meine Mutter stand auf, was mir mega-peinlich war und lief in Richtung Rudi. Ich wollte sie noch festhalten, doch sie ließ sich nicht beirren. Dann stand Rudi auf, lief meiner Mutter entgegen und meinte: „Frau Rautenstrauch, wie geht es ihnen? Schön, sie zu sehen.“ Sie schüttelten sich lange die Hände, dann deutete meine Mutter in meine Richtung und beide kamen, oh Schreck, in meine Richtung gelaufen.
„Das ist Rudi“, sagte se triumphierend zu mir. „Hallo Rudi, meinte ich, „ich bin Judith. Wir kennen uns wohl aus der Grundschulzeit.“ „Jaaa“, meinte er lächelnd. Und du trinkst immer noch gerne Schwarztee. Das hast du seltsamerweise schon als Kind getan“. Ich schaute ihn verdutzt an. Ja das stimmte und jetzt fiel es mir auch selbst wieder ein. „Dass du das noch weißt“, meinte ich. Darauf antwortete er mit einem Lächeln: „Ja und ich esse immer noch gerne Apfelkuchen mit einer extra großen Portion Schlagsahne“ und zeigte auf den kleinen Tisch, auf dem sein Kuchen mit Schlagsahne stand. „Magst du dich zu uns setzen“, fragte meine Mutter und zu meiner Überraschung sagte er: „Ja!“
„Liebe Frau Rautenstrauch“, fing er an, als er mit seinem Kuchenteller und einer Tasse Kaffee an unserem Tisch saß. „Ich habe mich als Kind immer gefragt, wo Judith ihre Eleganz her hat und jetzt weiß ich es, von ihnen natürlich.“ Meine Mutter lief rot an. War das schon der Versuch, bei meiner Mutter um mich zu werben oder war er einfach nur charmant? Dann entdeckte meine Mutter die Narbe und fragte ganz unverhohlen, wo er sich die denn zugezogen hatte. Sein Gesicht verlor etwas an Farbe und er meinte: „Die habe ich von meiner Ex-Frau. Wir sind seit letztem Jahr geschieden und vorher hat sie mir noch eine Weinflasche, sie war alkoholisiert, an die Stirn gedonnert. Keine schöne Geschichte. Doch die gehört der Vergangenheit an.
Und jetzt möchte ich mit ihnen beiden meinen Kuchen mit viel Schlagsahne genießen. Schön, dass wir uns wiederbegegnet sind.“ Dann schaute er mich ganz liebreizend an und aß seinen Kuchen. „Ein feiner Kerl“, dachte ich, „schade nur“, dass er durch eine solch gruselige Erfahrung gehen musste. Da war ich ganz froh, ohne größeren körperlichen oder mentalen Schaden aus meiner letzten Beziehung entkommen zu sein und trank genussvoll meinen Tee. Schon jetzt freute ich mich auf den nächsten Apfelkuchen mit Schlagsahne und Rudi.
Annalie
Am letzten Sonntag war ich mit einem Freund spazieren. Es war ein wunderschöner Sonnentag, trotz der Kälte. Nachdem wir schon gut zwei Stunden unterwegs spazieren gewesen waren, fror ich ein wenig. Da meinte mein Freund, wir könnten zum Aufwärmen doch ins nächste Café gehen. „Schöne Idee“, sagte ich, doch das nächste Café und auch das übernächste und überübernächste waren entweder geschlossen oder so voll, dass wir keinen Sitzplatz bekamen. „Was tun?“, überlegten wir. Dann kam uns endlich die Eingebung, in das nahgelegene Einkaufszentrum zu gehen, wo es zwar kein richtiges Café gab, doch man konnte in das beheizte Zentrum gehen, das auch sonntags offen war. Auf dem Weg dorthin wollten wir uns im nächsten Café ein Take-away mitnehmen, doch die Cafés, die offen waren, hatten alle kein Take-away. „Kein Take-away in der heutigen Zeit?“ fragten wir uns, „was ist los, sollen wir heute keinen Kaffee trinken, keinen Kuchen essen?“ Dann fiel mir ein, dass ich noch eine Kuchenfertigmischung zu Hause hatte und wenn wir uns in die nächste Bahn setzen würden, wären wir in knapp 20 Minuten bei mir.
„Okay“, meinte mein Freund zu dem Vorschlag, zu mir zu fahren und wir hatten Glück: die nächste Bahn kam schon in fünf Minuten und so waren wir nach einer knappen halben Stunde bei mir zu Hause. Dort angekommen, schaute ich im Vorratsschrank nach der Backmischung, doch da war keine Backmischung mehr. Nada, nichts, niente, nothing at all. „Wo war diese Backmischung hingekommen?“, fragte ich mich und dann fiel mir ein, dass ich sie kürzlich meinem Nachbarn gegeben hatte, der spontan unangemeldete Gäste mit einem Kuchen bewirten wollte. „Mist“, dachte ich, „es kann doch nicht so schwer sein, einen Kuchen zu backen, auch ohne Backmischung.“ Und zum ersten Mal in meinem Leben, ich war zu dem Zeitpunkt immerhin schon 20 Jahre alt und hatte sogar ein paar Mal Kochunterricht in der Schule gehabt, wollte ich einen Kuchen backen. Das war vollkommenes Neuland für mich. So neu, dass die besagte Backmischung schon seit gut zwei Jahren in meinem Vorratsschrank stand, bevor sie dann schlussendlich von meinem Nachbarn verbraucht wurde. Also, was tun?
Ich rief meine Mutter an und fragte sie nach einem einfachen Kuchenrezept und ob sie mir das Rezept abfotografieren und per iMessage schicken konnte. „Kind, du willst tatsächlich einen Kuchen backen? Das ist ja mal eine tolle Neuigkeit.“, rief sie erstaunt ins Telefon. Sie konnte es einfach nicht lassen, meine vorhandenen oder nicht vorhandenen Koch- und Backkünste zu kommentieren. „Na toll“, dachte ich. Da hatte ich wohl genau die richtige angerufen. Mist, hätte ich doch lieber Oma kontaktiert. Doch die konnte mir ja kein Rezept auf die schnelle per Handy schicken. Apropos, handy, meine Mutter war ja noch am Apparat. „Hallo, hallo Annalie, bist du noch dran, Kleines? Was ist, warum sagst du nichts?“ „Ach, alles gut, Mama“, sagte ich, „ich rufe später nochmals an. Tschüss.“ Dann legte ich auf. „Oma, das ist doch eine tolle Idee“, kam es mir in den Sinn. „Die wohnt um die Ecke und hat am Wochenende immer Kuchen da und außerdem freut sie sich bestimmt über Besuch.“
Und so war es dann auch. Oma hatte einen frisch gebackenen Streuselkuchen auf dem Tisch stehen, als wir zehn Minuten später in ihrer Küche standen und freute sich riesig über unseren Besuch. Es war wie in alten Zeiten, als ich Wochenendes mit meinen Eltern und meinem jüngeren Bruder bei meiner Großmutter war und es frisch gebackenen Kuchen gab. Mal war es Streuselkuchen, mal Rührkuchen oder auch etwas Hefegebäck. Es war immer alles lecker und ratzeputz von uns aufgegessen, zumindest, so lange Opa noch gelebt hatte. Der war nämlich der größte Kuchenesser aller Zeiten und konnte nie „Nein“ zu einem weiteren Stück Kuchen sagen. Heute war das zwar anders, mein Freund und ich aßen jeweils nur ein großes Stück Streuselkuchen, doch Oma freute sich trotzdem über unseren guten Appetit und unsere Freude am Essen.
„So, genug gefuttert“, meinte sie, nachdem wir zu Ende gegessen hatten. „Wo ist denn deine Freude am Backen geblieben? Als Kind hast du immer massenweise Sandkuchen auf dem Spielplatz gebacken und ich dachte, aus der wird bestimmt mal eine leidenschaftliche Kuchenbäckerin. Was ist los, wo ist dein Interesse daran geblieben? „Keine Ahnung“, meinte ich und nach einer Weile des Nachdenkens: „Vielleicht habe ich keine Leidenschaft mehr dafür entwickeln können, weil Mama alles komisch bewertend kommentiert, was ich hausfräulich tue.“ „Ach“, meinte Oma, „das liegt bestimmt nur daran, dass sie sich selbst nie für eine gute Köchin und Bäckerin beziehungsweise Hausfrau generell gehalten hat. Sie meinte oft zu mir: „Mama, ich kann nicht gut kochen, aber ich bin eine gute Gärtnerin. Der Garten sieht wieder herrlich aus, dank meiner guten Pflege.“ Prompt blieb mir der Mund offenstehen. „Alles Projektion“, dachte ich, wurde kurz wütend auf meine Mutter, doch dann konnte ich auch schon wieder darüber lachen und meine Großmutter lachte herzhaft mit.
So war das an besagtem Sonntag! Und das Ende vom Lied war, ich nahm von dem Tage an regelmäßig Back- und Kochunterrichtseinheiten bei meiner Großmutter. Die freute sich sehr, mich wieder regelmäßig zu treffen und meinen Freund freute es, nach den Unterrichtseinheiten zur Verkostung vorbeikommen zu dürfen. Auch für mich war es die reine Freude mit Omi. Heute noch, zwei Jahre nach dem Tod meiner Großmutter, bin ich dankbar für die gemeinsame Zeit, umso mehr, da sie mir noch viele ihrer Tricks beim Kochen und Backen beigebracht hat und mich mit zahlreichen Lieblingsrezepten über ihren Tod hinaus glücklich macht.
Amalie
Es war im Sommer 1987, ich hatte gerade mein erstes neues Auto bekommen und war stolz, dass ich mir etwas ganz alleine, von meinem selbst verdienten Geld gekauft hatte. Stolz auch deshalb, da ich selbst auf die Suche nach der für mich passenden Marke gegangen war und mir dann dieses sportliche Modell ausgesucht hatte. Ein Zweisitzer! Na und? Ich dachte mit Anfang zwanzig noch nicht an Familie und mögliche Kinder, die im Auto von der Schule zum Sport und wieder nach Hause transportiert werden mussten. Ja, so war das. Und dann ließ mich mein Vater total auflaufen. Es musste ihn wohl verletzt haben, dass ich ihn nicht um Rat gefragt hatte, was den Autokauf anbelangte. Seine kleine Püppi war jetzt eben erwachsen. Punkt!
Als ich mit meinem Sportflitzer bei meinen Eltern vorfuhr, kam mein Vater zur Tür heraus und meinte: „Für das Auto bist du doch viel zu dick. Da passt du doch gerade mal so rein.“ Am liebsten hätte ich Gas gegeben und wäre über sein Rosenbeet im Vorgarten gefahren und dann abgedüst. Aber ich war ja ein braves Mädchen, das nicht einmal irgendwelchen unschuldigen Blumen etwas zu Leide tun wollte. Und dann war da ja auch noch meine Mutter, die mir diesen ganzen Mist mit den Diäten und dem Gefühl, zu dick zu sein, eingebrockt hatte.
Schon als kleines Kind habe ich immer zu hören bekommen: „Iss nicht zu viel, mein Schatz, wir wollen doch nicht dick werden.“ Wir wollen doch nicht dick werden! Damit meinte sie natürlich sich, doch als Kind habe ich das nicht wirklich verstanden und dachte immer, ich würde zu dick werden, wenn ich das aß, was ich wirklich wollte, worauf ich wirklich Hunger und Lust hatte. Ständig gab es Verbote und Reglementierungen: „Nein, nicht das, das ist zu fett, nimm Halbfettmargarine statt Butter“, und, „Sei nicht so gierig, die Hälfte reicht aus“. So ging das meine ganze Kindheit über und in der Pubertät hatte meine Mutter dann das erreicht, was sie eigentlich vermeiden wollte. Es war wie eine self-fulfilling-prophecy.
Plötzlich war ich tatsächlich zu dick, sichtlich übergewichtig, ohne dass ich wusste, wie es dazu gekommen war. Ja, und dann hatten wir den Salat, vielmehr, ich aß fast nur noch Salat. Der macht ja nicht dick, hilft beim Abnehmen und ist dazu noch soooo gesund. Von wegen! Seit dieser Salat-Kur, die ich über mehrere Wochen durchgehalten hatte, stimmte meine Verdauung nicht mehr. Mal hatte ich Verstopfung, mal Durchfall und vor allem war mir fast ständig kalt, selbst im Hochsommer trug ich ein Unterhemd und zog Socken an. Von den langärmeligen T-Shirts und den Wollsocken nachts im Bett ganz zu schweigen. Ich fror, mal mehr, mal weniger.
Als ich dann irgendwann, nach etwa vier Wochen gecheckt hatte, dass das mit meinem Essverhalten und dem vielen Mineralwasser, das ich gegen den Hunger trank, zusammenhing, habe ich sofort aufgehört mit dem Salatessen und nur noch heißes Wasser getrunken. Das hatte mir mal eine Freundin empfohlen, die sich mit Ayurveda beschäftigt hatte. Ich wusste zwar nicht mehr, warum ich heißes Wasser trinken sollte, doch es half gegen die Kälte und auch gegen einige Verdauungsbeschwerden, die ich auch schon vor der Salat-Diät hin und wieder, jetzt nur verstärkt, hatte. So zum Beispiel Blähungen, Durchfall und Übelkeit, vor allen Dingen am Morgen.
Ja, so war das und obwohl das nun alles schon vier oder fünf Jahre her ist, kann ich mich noch sehr gut daran erinnern, wie müde und kraftlos ich mich in dieser Zeit gefühlt habe. Heute bin ich normalgewichtig, habe meine Ernährung komplett auf die Ayurvedische Ernährungslehre umgestellt und fühle mich insgesamt wohl und zufrieden. Da macht mich so ein blöder Kommentar meines Vaters auch nicht weiter traurig. Ich denke dann nur: „Wie schade für ihn, dass er mich aus lauter Verletztheit nicht wirklich sehen und loben kann, nicht begreift, welch zufriedener, glücklicher Mensch aus mir geworden ist, trotz des gestörten Verhaltens meiner Mutter zu sich und zum Essen.“
Annalena
Ich ging an einem schönen Fluss entlang. Das Wasser war klar und rein und ich konnte deutlich bis auf den Grund des Flusses schauen. Ich hatte schon lange nicht mehr so ein innig intensives Gefühl und fühlte mich eins mit mir, mit dem Fluss, mit allem, was um mich herum war. Und dann, aus dem Nichts der Stille tauchte ein kleines Eichhörnchen auf. Es sprang mich von der Seite an. Vermutlich dachte es, ich wolle es in irgendeiner Weise bedrohen. Das lag mir natürlich fern, sehr fern. Ich genoss einfach die Natur, das kleine Schauspiel der Kräfte und war in meinen Gedanken verloren. So hatte ich das Eichhörnchen auch gar nicht bemerkt.
Na, hoppla, da war ja noch eines, das sich mir jetzt in den Weg stellte. Ganz keck saß es da, mit erhobenem Oberkörper und strahlte mich an, zumindest wirkte es so auf mich. Ich blieb ganz ruhig stehen, um das Rothörnchen nicht zu erschrecken und schaute es innig und liebevoll an. Es wirkte kraftvoll und zerbrechlich zugleich. Das fand ich irgendwie entzückend und beeindruckend. Wie konnte ein so kleines Tier eine solche Kraft und Lebendigkeit ausstrahlen? Dann fiel mir ein, dass ich noch ein paar Nüsse in meinem Rucksack hatte, als Wegzehrung.
Nachdem ich die Nüsse aus meinem Rucksack gezerrt hatte, kamen die beiden Rabauken im Nu ganz nah an mich heran. Eines davon ließ sich sogar mit der Hand füttern. Ich war begeistert und fühlte mich an meine Kindheit erinnert, wenn ich mit meiner Großmutter auf dem Waldfriedhof war, wo sich ganz viele Eichhörnchen direkt aus der Hand füttern ließen. Ich kann mich noch daran erinnern, welch tiefes Glücksgefühl ich in diesem Moment empfunden hatte. Und genau so war es jetzt, in diesem Moment. „Herrlich!“, dachte ich.
Als die Nüsse aufgefuttert waren, verschwanden die beiden Rotfellchen und ich war wieder ganz bei mir, noch tief in diesem Glücksempfinden versunken. Und wieder dachte ich: „Herrlich, so lässt es sich gut leben. Was ein paar Nüsse im Leben bewirken können, vor allem, wenn sie emotional so positiv aufgeladen sind.“ Und dann fiel mir ein, dass sich in meiner Jackentasche noch eine besonders schöne Walnuss befand, die mir eine Freundin und Nachbarin gestern über den Gartenzaun hinweg gereicht hatte. Es war eine der ersten reifen Nüsse in diesem Jahr, die von ihrem Nussbaum gefallen war und die sie mir, ganz andächtig, geschenkt hatte.
Jetzt konnte ich die Nuss mit der gleichen Andacht in den Händen halten, sie von allen Seiten her betrachten und mich auf den süßlich, leicht bitteren Geschmack der Nuss freuen. Walnüsse liebte ich als Kind schon. Wir hatten einen großen, alten Walnussbaum im Garten stehen, der leider vor ein paar Jahren gefällt werden musste. Er war morsch und es bestand Gefahr, er würde eines Tages umfallen. Ich habe mir damals ein großes Stück Holz davon mitgenommen, das heute noch bei mir zu Hause im Wohnzimmer steht. Dann knackte ich die Nuss, pellte die innenliegenden Hälften heraus und vernaschte sie genüsslich. „Ah“, dachte ich, und „herrlich!“ und nochmals „herrlich!“.